Ásgeir Sigurvinsson im Interview mit in Reykjavik.is

In vielem noch immer aktuell, vor allem warum die isländische Nationalmannschaft in den letzten Jahren so Ungeheuerliches erreicht – auch bei der Fussballweltmeisterschaft 2018 in Russland. Ásgeir Sigurvinsson kommt von den Vestmannaeyja, den Westmännerinseln (Einwohner: etwas über 4.000), die vor der Südküste des isländischen Hauptlandes liegen und wurde bei einer landesweiten Abstimmung vollkommen zurecht zum „besten isländischen Fußballspieler des Jahrhunderts“ gewählt.

Hier begann die Profikarriere Ársgeir Sigurvinssons: Der Erstliga-Fußballplatz auf den (Vestmannaeyja) Westmännerinseln. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2014-06-24_P1060020_00156
Hier begann die Profikarriere Ársgeir Sigurvinssons: Der Erstliga-Fußballplatz auf den (Vestmannaeyja) Westmännerinseln. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Über seinen Heimatverein ÍBV Vestmannaeyjar, Standaard Lüttich und dem FC Bayern München entwickelte sich der begnadete Techniker mit der Rückennummer 10 zu einem legendären Führungsspieler beim VfB Stuttgart, bei dem er acht Jahre spielte. Nach seiner aktiven Zeit als Spieler blieb der „Eismeer-Zico“ zunächst als Scout beim VfB, bevor er wieder nach Island ging und dort als Vereinstrainer und danach als Sportdirektor für den isländischen Fußballverband arbeitete und schließlich Nationaltrainer wurde.

Auch heute noch, mit 61 Jahren, ist der dem Fußball verbunden. Als Miteigentümer der Isländischen Fußballakademie KAI bildet er Kinder, Jugendliche und gestandene Erstligaspieler aus.

Zum Beginn der EM 2016 nimmt sich der immer noch sportlich aussehende, sympathische Ásgeir, der schon immer ohne irgendwelche Starallüren auskam, die Zeit für ein Interview. „Komm einfach zu mir nach Hause, das ist vielleicht am einfachsten.“

Ásgeir Sigurvinsson über die Chancen des isländischen Teams bei der EM 2016. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2016-06-10_L1060225_00014
Ásgeir Sigurvinsson über die Chancen des isländischen Teams bei der EM 2016. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Die Chancen Islands bei der EM 2016

Auf dem heimischenSofa sitzend legt er gleich los.
„Ich freue mich darauf, nach Frankreich zu fliegen. Island ist zum ersten Mal bei einer Europameisterschaft dabei – das ist schon toll.
Ich kann nur hoffen, dass wir uns für die Zwischenrunde qualifizieren. Bei der EM 2016 mit 24 Mannschaften müssen nach der Gruppenphase nur sechs Mannschaften nach Hause – kann man theoretisch sogar mit nur einem Punkt weiterkommen.
Wahrscheinlich wird Portugal erster sein in unserer Gruppe.
Die besten dritten Mannschaften kommen weiter, mal sehen.“

„Wir müssen uns auf jeden Fall so vorbereiten und so spielen wie bei den Qualifikationsspielen. Wir sind als Mannschaft sehr stark aufgetreten und haben von einer gesicherten Abwehr heraus gespielt. Und wir haben Spieler im Mittelfeld und Angriff, die Tore machen können. Wir sind körperlich stark und sehr gut organsiert. Und wenn wir gegen Portugal die Abwehrreihen nicht zu weit nach vorne bringen. So haben wir auch gegen Holland zweimal gewonnen, gegen Tschechien und die Türkei geschlagen. Und wir haben auch auswärts keine großen Probleme gehabt mit dieser Mannschaft.“

„Aber unsere Vorbereitungsspiele waren nicht besonders gut,
man wird sehen, ob unsere Mannschaft sich noch steigern kann, das brauchen die jetzt.
Keiner ist verletzt, alle sind gesund. Mit Gylfi Sigurðsson und Kolbeinn Sigþórsson haben wir auch Spieler, die ein Spiel entscheiden können. Wir sind bei Standardsituationen stark und spielerisch sind wir weiter als früher. Wir haben ein paar Spieler, die gut am Ball sind. Wir sind keine überragende Mannschaft, aber wir können mit Sicherheit Österreich oder Ungarn schlagen – obwohl, die können uns auch schlagen, und das wissen wir auch. Wir brauchen etwas Glück, dass nichts Schlimmes passiert.“
„Gegen Portugal kann ich mir vorstellen, dass wir, wenn wir die erste Halbzeit zu Null spielen können, dann machen die hinten auf, und dann sehen wir mal. So haben wir auch in der Qualifikation gespielt und Mannschaften wie die Niederlande geschlagen. So einfach ist es, so einfach ist Fußball.“

Im idyllisch und doch mitten in der Stadt liegenden Stadion Laugardalsvöllur bestreitet das isländische Team seine Heimspiele (Rudi Völler wird sich erinnern). ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2012-05-08__MG_7805_00023
Im idyllisch und doch mitten in der Stadt liegenden Stadion Laugardalsvöllur bestreitet das isländische Team seine Heimspiele (Rudi Völler wird sich erinnern). ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Ich weiß nicht, ob es heute mehr Talente in Island gibt als früher. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt haben wir dank sei der großen Hallen und des Kunstrasens endlich auch die Möglichkeit im Winter zu trainieren und zu spielen. Die Saison ist wetterbedingt nur recht kurz, von Mai bis September, und da war es einfach sehr schwierig, das ganze Jahr über zu trainieren.
Zur Zeit haben wir eine ganze Zahl an Spielern, die im Ausland unter Vertrag stehen, und das hat uns nach vorne gebracht.“

„Und das weckt auch das Interesse der Jugend. Die sehen, dass viele Spieler, die im Ausland spielen Erfolg haben. Von unserer Nationalmannschaft spielen so ungefähr alle im Ausland, In Norwegen, Schweden, Dänemark, in der Schweiz, Belgien, Italien, England und mit Alfred Finnbogason (FC Augsburg)  und Jón Böðvarsson (1. FC Kaiserslautern) zwei ja auch in Deutschland. Seit einiger Zeit spielen auch viele Island In Holland, bei PSV Eindhoven, Ajax Amsterdam, SC Heerenveen oder AZ Alkmaar, aber die sind noch jung und noch nicht bei der Nationalmannschaft. In Holland schauen sie ziemlich genau auf Island und haben gute Ausbildungen für junge Spieler. Viele isländische Spieler haben dort angefangen und wechseln dann in größere Ligen.“

Fußballakademie KAI in Reykjavík – Unabhängigkeit und jede Menge internationale Profi-Erfahrung

Ásgeir Sigurvinsson – noch immer mit Herz für den Fußball unterwegs, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2016-06-10__MG_0427_00007
Ásgeir Sigurvinsson – noch immer mit Herz für den Fußball unterwegs, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Zusammen mit Eiður Smári Guðjohnsen, der 2006 bis 2009 beim FC Barcelona spielte und mit seinen 37 Jahren jetzt auch bei der EM noch als Spieler dabei ist, seinem Vater Arnór Guðjohnsen, Ex-Spieler von unter anderem RSC Anderlecht in Belgien und bei Örebro SK in Schweden, Guðni Bergsson, ehemals Spieler von u.a. Bolton Wanderers und Alt-International, und Logi Óalfsson, dem ehemaligen Nationaltrainer betreibe ich seit zwölf Jahren die Isländische Fußball Akademie KAI (Knattspyrnuakademía Íslands).“

„Wir operieren dabei vollkommen unabhängig vom Isländischen Fußballverband und den Vereinen und bieten außerhalb der Saison, die durch unser arktisches Klima naturbedingt recht kurz ist, im Herbst, Winter und Frühjahr mehrere dreiwöchige Trainingseinheiten für Fußballer an. Außerdem haben wir eine Fußballschule in Selfoss, in der wir viermal in der Woche ein Training anbieten.“

„Damit bewegen wir doch einiges. So kommen im Juli fünf Trainer vom FC Barcelona um eine Woche lang nur mit Mädchen zwischen neun und 14 Jahren zu trainieren. Wir hatten so auf 200 Mädchen gehofft. Schon eine halbe Stunde, nachdem wir das bekannt gemacht hatten, hatten sich schon 300 Mädchen angemeldet und mussten wir die Liste leider schließen.
Da werden die 300 isländischen Mädchen doch eine Super-Woche erleben!“

„Überhaupt kam unser Angebot schon von Anfang an sehr gut an. Zu uns kommen auch Spieler aus der ersten isländischen Liga, Männer und Frauen, die sich weiterentwickeln wollen. Sie werden entweder von ihren Vereinen ermuntert zu kommen, oder sie tun dies aus eigenem Antrieb.
Praktisch alle Spieler, die jetzt mit der Nationalmannschaft in Frankreich bei der EM sind, haben auch Lehrgänge bei uns besucht.“

„Selbstverständlich haben wir Kontakt mit den Vereinstrainern und Spielerberatern, wir mischen uns da aber nicht ein. Natürlich kennt hier jeder jeden und spricht man miteinander aber wir achten doch sehr darauf, dass wir uns nicht einmischen und bewahren so unsere Unabhängigkeit gegenüber den Vereinen, Spielerberatern und dem Verband.“

Ásgeir Sigurvinsson und der VfB Stuttgart

„Der VfB ist immer nur so gut wie Ásgeir Sigurvinsson spielt.“ – ARD Sportschau, 1984

Im Laugardalsvöllur werden während der Saison auch jede Woche Ligaspiele ausgetragen. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2012-05-07__MG_7720_00007
Im Laugardalsvöllur werden während der Saison auch jede Woche Ligaspiele ausgetragen. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Als ich noch aktiv war, hatte ich keinen Spielervermittler, die gab es zwar schon, aber ich brauchte das nicht, ich habe ja nicht oft gewechselt.“

„Bei Bayern München war ich nur ein Jahr, weil ich mich beim belgischen Pokalfinale am Ende der Saison bevor ich zu Bayern ging, am Innenband des Knies verletzt habe. Ich war dann bei Dr. Müller-Wohlfahrt und Hans-Jürgen Montag in Behandlung und konnte deshalb ich die Vorbereitung nicht mitmachen. Trotzdem habe ich noch 17 Spiele in der Saison 1981–82 gespielt und wurden wir Deutscher Pokalsieger und standen im Endspiel im Europapokal der Landesmeister. Ich hätte bleiben können, konnte mir aber nicht vorstellen, in München zu bleiben und vielleicht nicht spielen zu können. Es war eine schöne Zeit, aber ich hätte sicher noch ein Jahr gebraucht, um mich dort wirklich etablieren zu können. Und so bin ich mit Kurt Niedermayer von Bayern zum VfB Stuttgart gewechselt. Später wollte mich Bayern wieder zurück haben, aber das wollte ich dann nicht mehr. Ich habe mich in Stuttgart einfach wohlgefühlt.“

„Helmut Benthaus, der neue Trainer des VfB Stuttgart, ist bei einem Länderspiel Island gegen die Schweiz auf mich aufmerksam geworden und hat den VfB-Bossen gesagt, dass er mich unbedingt haben möchte. Und so bin ich 1982 beim VfB gelandet und 1984, mit der legendären Mannschaft um Helmut Roleder, Karlheinz Förster, Bernd Förster, Günther Schäfer, Karl Allgöwer, Guido Buchwald und Hermann Ohlicher mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister geworden.“

„Ich habe immer noch eine gute Beziehung zum VfB, bin noch jedes Jahr mindestens zweimal dort, sehe meine alten Mitspieler, und hatte 2015 die Ehre, sogar die Verdienstmedaille in Gold des Vereins zu erhalten.“

Dass ein Verein wie der VfB Stuttgart in der 2. Liga spielt, das geht eigentlich nicht.

Der frühere Nationspieler Ágeir Sigurvinsson wird bei den Gruppenspielen seiner Nationalmannschaft im Stadion in Frankreich mitfiebern. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2016-06-10_L1060224_00013
Der frühere Nationspieler Ágeir Sigurvinsson wird bei den Gruppenspielen seiner Nationalmannschaft im Stadion in Frankreich mitfiebern. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Deshalb sehe ich auch die aktuelle Entwicklung mit dem Abstieg mit Sorge. Dass so ein Verein wie der VfB Stuttgart nur in der 2. Bundesliga spielt, das geht eigentlich nicht. Ich sage nur, der Fehler beim VfB ist immer der gleiche gewesen: Die denken nicht groß genug.“

„Mit Mercedes-Benz und den anderen großen Stuttgarter Firmen sollte man doch andere Möglichkeiten haben. Normalerweise sollte der VfB ein Club wie die Bayern sein. Aber das liegt wahrscheinlich an der schwäbischen Mentalität, dass man nicht zuviel ausgeben möchte.“

„Dabei denke ich mir, man sollte lieber Qualität statt Quantität kaufen, aber das ist das Problem gewesen. Und das man nicht in der Lage ist, seine besten Spieler zu behalten. Wenn es so bleibt, dann wird der VfB nicht besser. Und wenn da Leute sitzen die sagen, sie können das nicht, dann sind da die falschen Leute am Ruder.“

„Warum ist Wolfsburg mit Volkswagen so erfolgreich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Chef von Daimler glücklich ist, wenn Wolfsburg nach Stuttgart kommt und 0:4 gewinnt – in der Mercedes-Benz Arena! Das passt nicht.“

„Ágeir Sigurvinsson wir brauchen Sie in der Nationalmannschaft. Wollen Sie nicht Deutscher werden? – Ich bin Isländer und bliebe Isländer“ – Interview in der ARD Sportschau noch auf dem Platz, direkt nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1984.

Ásgeir Sigurvinsson kommt noch regelmäßig nach Stuttgart. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2016-06-10_L1060230_00020
Ásgeir Sigurvinsson kommt noch regelmäßig nach Stuttgart. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Insgesamt war ich mit meiner Familie 16 Jahre in Stuttgart. Nach meiner aktiven Zeit als Spieler In Stuttgart habe ich dort einen Getränkemarkt eröffnet. In der Zwischenzeit habe ich den verpachtet. Zum Getränkemarkt kam ich über Reinhold Zech, der von 1968 bis 1975 als Profi für den VfB spielte, und in der Zwischenzeit im Vorstand von Bad Liebezeller Mineralwasser war.“

„Als die Kinder größer wurden, sind wir dann doch wieder zurück nach Island und habe ich zunächst für den KSÍ, den Isländischen Fußballverband gearbeitet. 2003 haben sie mich dann gefragt, ob ich Nationaltrainer werden wollte. Eigentlich wollte ich das nicht, aber es dann bis 2005 doch gemacht.“

„Über den KAI habe ich natürlich immer noch sehr gute Beziehungen zu Spielern und Verband und bin dort immer willkommen. Und so werde ich sie sicher auch besuchen, wenn ich am Sonntag nach Frankreich fliege und mir die Gruppenspiele unserer Nationalmannschaft anschaue.“