„Veränderungen sind ein enorm kraftvoller Katalysator für Kreativität“ – 1/2

Wir treffen uns im stillgelegten Kohlekraftwerk Toppstöðin in Reykjavík. Dort befindet sich hinter der großen Turbinenhalle der Übungsraum von Árstíðir. Ragnar Ólafsson, der Pianist der Band, mit dem inReykjavik.is das Interview führt, ist guter Dinge. Die frisch gepresste CD kam vor ein paar Tagen an und mit dem Resultat sind er und der Rest der Band mehr als zufrieden.

— Zur Besprechung des neuen Albums Hvel geht’s hier —

Die CDs von Árstiðir mit der gerade erschienen Hvel, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-02-28__MG_2735_00048
Die CDs von Árstíðir mit der gerade erschienen Hvel, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Über Hvel – das neue Album von Árst’iðir
„Ja, das ist wahr, unser neues Album Hvel ist etwas rauer als die ersten zwei.
Das ist interessant, da wir die beiden ersten Alben in der Natur oder zu Hause auf dem Sofa geschrieben haben.
Dann sind wir in unseren neuen Proberaum gezogen, in dem all diese ganzen Industriemaschinen herumstehen. Das war sowohl eine bewusste Entscheidung als auch eine natürliche Entwicklung. Das ist, wo wir im Moment in unserer Karriere stehen. Wir finden uns in einer alten, verlassenen Fabrikanlage zur Stromerzeugung wieder, dann lass’ diesen Ort auch Inspiration sein. Das Statement des Album ist dann auch: Kreiere etwas Schönes aus etwas, was alt und dreckig ist.
Dies war ein Kohlekraftwerk bevor Island sich der umweltfreundlichen Energie verschrieben hat. Hier wurde Kohle verbrannt, es war unglaublich dreckig. Heute ist es die Heimat von Künstlern, mit neuen Ideen, Schriftstellern, Designern, Architekten, Maler und Musikern.
Es ist ein zyklischer Effekt: Etwas, das alt und verlassen ist, bekommt einen neuen Kontext.
Und unser musikalischer Zyklus entspricht dem. Schließlich nennen wir uns Árstíðir ‚Jahreszeiten‘. Die Erneuerung steht also sozusagen schon als Programm in unserem Bandnamen.“

Releasekonzert von Arstiðir für das Album Hvel im Café Rosenberg, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3486_00051
Releasekonzert von Arstiðir für das Album Hvel im Café Rosenberg, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Auch wenn man sich das Artwork auf unserem neuen Album anschaut: Das Foto wurde aufgenommen in Ostrawa, Tschechien. Wir haben dort schon zweimal gespielt. In früheren Zeiten war dies, wegen seiner industriellen Anlagen, ein unglaublich verschmutzter Ort. Die Krebsrate dort war signifikant höher als in den anderen Landesteilen. Heute stehen die alten Anlagen noch immer – als Industrieruinen.
Mit dem hiesigen Fotografen Vladimir Půlpán von dort, sind wir durch die Anlagen gestreift. Wenn man die Fotos sieht, sieht es beinahe organisch aus.
Das war der perfekte Bipolarismus, komponieren und üben in Toppstöðin, dem ehemaligen Kohlekraftwerk und Fotos aus dem industriellen Universum Ostrawas.
Dies wurde zur symbolischen Backdrop des neuen Albums, die Umgebung, in der die Songs sich abspielen. Dieses Album hat also eine Geschichte mit Toppstöðin.“

„Wir verwenden in Hvel auch mehr elektronische Effekte. Das ist eine natürliche Entwicklung in diesem Kontext.
Wir haben zum Teil auch sehr alte Effekte verwendet. Auf Vetur að vori verwenden wir zum Beispiel einen alten ARP-2600 Synthesizer aus den späten 1970ern, einen der ältesten, breit verkauften Synthesizern überhaupt.“

Ragnar Ólafsson, Piano und Gesang, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3261_00193-Bearbeitet
Ragnar Ólafsson, Piano und Gesang, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Die Gründung von Árstíðir
„Daniel und ich haben einander in der Universität kennengelernt. Daniel studierte Ingenieurs- und ich Allgemeine Literaturwissenschaften. Getroffen haben wir uns im Universitätschor – und haben fast noch am gleichen Tag eine Band gegründet. Schon von Beginn an haben wir gemerkt, dass die Leute mögen, was wir spielen. Dann haben wir Gunnar getroffen und haben in Bars in Downtown Reykjavík gespielt.
2007 haben wir jede Woche einmal in einer Bar gespielt und mehrstimmig gesungen, und die Leute kamen tatsächlich für uns in diese Bar, die war einfach immer voll. Nach einem Winter in der Bar haben wir uns gesagt. Okay, lasst uns jetzt was Richtiges machen und unsere eigenen Stücke schreiben und spielen und lasst uns sehen, ob wir dieselbe Resonanz bekommen. Das war der Anfang.“

Daniel Auðunsson – Gitarre, Gesang, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3303_00206-Bearbeitet
Daniel Auðunsson – Gitarre, Gesang, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„2008 haben wir Árstíðir gegründet und haben unseren ersten Song aufgenommen: Sunday morning. Und dann spielten wir das erste Konzert mit eigenem Stücken unter diesem Namen – genau einen Monat nach dem großen Bankencrash! Man könnte also sagen, Árstíðir ist Produkt des wirtschaftlichen Kollapses.
Notiert man auf einer Grafik Punkte unseres Starts bis hin zu unserer Situation jetzt in dieser Industrieruine sowie die Stationen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Islands bis heute, und verbindet diese mit einer Linie miteinander, bekommt man eine ziemlich interessante Form. Und das ist Árstíðir.“

„Sunday morning wurde zum meistgespielten Lied im isländischen Radio. Wir hatten als einen ziemlich guten Start als Árstíðir.“

Karl, Gunnar, Ragnar und Daniel spielen dieses Jahr auch noch in den deutschsprachigen Ländern, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3083_00106
Karl, Gunnar, Ragnar und Daniel spielen dieses Jahr auch noch in den deutschsprachigen Ländern, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„2010 war unsere erste internationale Tour. Im Herbst ging es nach Schweden, Norwegen und Dänemark. Wir haben alles selbst geregelt. Haben den Telefonhörer in die Hand genommen und gefragt, ob wir da und da spielen können. Und wir haben Freunde gefragt, ob wir bei ihnen übernachten dürfen.“

„Noch immer versuchen wir, soviel wie möglich selbst zu regeln. Wir produzieren unsere Musik selbst, haben unser eigenes Label Nivalis, das lateinische Wort wird für Spezies verwendet, die in einer harschen Umwelt leben. Beispielsweise die ersten Pflanzen, die ihre Köpfe wieder aus dem Schnee heben. Dieses Wort hat sehr schöne Konnotationen für Lebensformen die unter harten Umweltbedingungen leben müssen – wie wir in Island nach dem Bankenkollaps.“

Soundcheck – Das Releasekonzert spielt Árstiðir mit der Chellistin Unnu Jónsdóttir. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3326_00217-2
Soundcheck – Das Releasekonzert spielt Árstíðir mit der Cellistin Unnur Jónsdóttir. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Naturmetaphern
„Dies war übrigens einer der Namen, die wir uns zunächst als Bandnamen überlegt hatten. Schließlich wurde es Árstíðir, „Jahreszeiten“, da wir so viele Metaphern aus der Natur, dem isländischen Klima und den sich immer verändernden Lichtverhältnissen
und den Jahreszeiten in unserer Musik verwenden.“

„Dass wir soviele Anspielungen auf die Natur verwenden geschah einfach auf natürliche Art und Weise. Das war nicht geplant. Wir realisierten uns, nachdem wir das erste Lied geschrieben haben, dass das für uns eine gemeinsame Basis war, die Natur, das Wetter. Es war und ist ein gemeinsames Gefühl, eine gemeinsames Ausdrucksweise, in der wir uns verbunden fühlen. Zu dieser gehört auch die Melancholie – unsere Lieder sind eigentlich alle ziemlich melancholisch. Das manchmal harte Wetter hier in Island, die langen Winter mit ihrer Dunkelheit können für mich zu einer Metapher für ein bestimmtes Gefühl werden.“

Die ungewöhnliche Instrumentenwahl Árstiðirs: Violine (mit Effekten), Gitare, Baritongitarre und Piano, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3351_00230
Die ungewöhnliche Instrumentenwahl Árstíðirs: Violine (mit Effekten), Gitarre, Baritongitarre und Piano, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Personelle Veränderungen
„Die erste CD, Árstíðir, kam 2009, ein Jahr, nachdem wir die Band formiert hatten, heraus. Die zweite, Svefns og vöku skil, kam 2011.
Für die dritte hatten wir etwas länger nötig. Der Grund dafür lag in den Veränderungen in der Band.
Ursprünglich waren wir zu zweit, Daniel und ich, wobei Gunnar recht schnell hinzukam. Wir formen sozusagen das Herzstück von Árstíðir. 2009 waren wir auf sechs Bandmitglieder gewachsen. Am Ende 2013 haben zwei Mitglieder die Band wieder verlassen. Die anderen beiden haben einfach gemerkt, dass sie nicht so für das Tourneeleben geschaffen sind. Es lag also nicht daran, dass wir Knatsch miteinander hatten. Wir sind mit beiden immer noch befreundet.“

„Die Band hat das selbstverständlich verändert. Als wir nun zu viert waren, mussten wir unsere musikalische Identität wieder neu erfinden.
Es dauert einfach eine Weile, bis man sich wieder richtig fokussieren kann. Gleichzeitig war dies auch die Zeit, in der wir gerade ins Toppstöðin eingezogen sind.
Es gab also eine Veränderung in der Band selbst und wir sind in eine neue Umgebung umgezogen.
Und wir haben uns gesagt, lasst uns etwas Gutes daraus machen, nutzen wir unsere Kreativität und schaffen etwas Neues.“

Der Auftakt zu einem großen Tourneejahr für Árstiðir, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-07__MG_3628_00135
Der Auftakt zu einem großen Tourneejahr für Árstíðir, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

„Von 2009 bis 2013 klang die Band auf eine bestimmte Weise, ohne klangliche Überraschungen. Und jetzt fanden wir eine natürliche Entschuldigung, um uns weiterzuentwickeln – ganz einfach weil wir mussten.
Man kann also durchaus sagen, dass die Entwicklung von Hvel vier Jahre dauerte.
Man kann auch sagen, dass Hvel ein Break-up Album ist. Auf eine Weise sagen wir in diesem Album Auf Wiedersehen zu unseren alten Bandmitgliedern.“

„Durch die Verkleinerung auf vier Bandmitglieder hat sich musikalisch aber auch praktisch einiges verändert. Ich selbst habe die Baritongitarre gespielt, aber da einer der Bandmitglieder, die uns verlassen haben Klavier gespielt hat, habe ich jetzt darauf umgesattelt. Und meinen Klang am Klavier, meinen neuen musikalischen Platz in der Band neu zu finden hat etwa ein Jahr gedauert. Und Gunnar hat eigentlich Gitarre gespielt und spielt jetzt die Baritongitarre. Er hat also einen vergleichbaren Prozess durchgemacht.“

„Wenn ich mir jetzt Hvel anhöre, bin ich recht glücklich. Ohne die Veränderungen in der Band und unsere Entwicklung, hätten wir nie dieses Album machen können. Veränderungen sind ein enorm kraftvoller Katalysator für Kreativität und neue Ideen.“

— Hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews ––>>

Begeisterer Applaus in einem vollgepackten Café Rosenberg, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2015-03-06__MG_3582_00108
Begeisterer Applaus in einem vollgepackten Café Rosenberg, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

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Árstíðir sind:

Daniel Auðunsson – Gitarre, Gesang
Gunnar Már Jakobsson – Baritongitarre, Gesang
Karl James Pestka – Violine, Elektrische Geige, Bratsche, Programmierung, Gesang
Ragnar Ólafsson – Piano, Gesang

Die CD und das Vinyl-Album können gerne bei uns bestellt werden. Die CD für € 17, Vinyl für € 25) zzgl. Porto- und Versandkosten). Schreiben Sie und einfach eine kurze Mail, wir melden uns dann so schnell wie möglich!