HÚ! – Ganz Island ist im Fußballfieber

Zur Überraschung der allermeisten außerhalb Islands und auch im Land selbst, hat Island die Gruppenfade bei der Euro2016 überlebt und im Achtelfinale sogar England(!) besiegt. Schon die Qualifikation zur EM machte die Mannschaft um ihren Spielführer Aron Einar Gunnarsson zu Helden. Und sie wussten von Anfang an: solange sie kämpfen und ihr bestes geben, sind alle zuhause stolz auf sie.

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Wikingerstolz, ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Einfachen Stolz kann man das ja fast schon nicht mehr nennen, die Isländer platzen fast vor Überschwang und Freude. Sie laufen nur noch breit strahlend durch die Stadt, wer noch ein Nationalmannschaftstrikot ergattern konnte, bevor es ausverkauft war (neue Trikots sind unterwegs) trägt es mit Stolz geschwellter Brust spazieren. Auch der allerletzte Fußballmuffel hat sich in der Zwischenzeit von der begeisterten und begeisternden Atmosphäre anstecken lassen.

Die Mannschaft – der lange Weg zurch die Instanzen
Wie konnte das alles geschehen? Ásgeir Sigurvinsson, ehemaliger Nationalspieler, Pokalsieger mit Standaard Lüttich, Pokalsieger und Finalist im UEFA Pokal der Landesmeister (heute Champions-League) mit Bayern München und Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart erklärt im Interview mit inReykjavik.is wie die Isländer da in aller Ruhe schon jahrelang darauf hin arbeiten.

Ein Teil des Plans ist auch, dass die Spieler im Ausland Erfahrung sammeln. Hier alle Spieler des isländischen EM-Teams mit Rückennummern und ihrem aktuellen Arbeitgeber. Da wird schnell deutlich, dass die meisten Spieler nicht wirklich bei den erfolgreichsten Teams in Europa spielen und meist sich nicht in den besten Ligen Europas oder gar mal in der höchsten Liga.

1    Hannes Þór Halldórsson    Bodö / Glimt
2    Birkir Már Sævarsson    Hammarby
3    Haukur Heiðar Hauksson    AIK
4    Hjörtur Hermannsson    IFK Gautaborg
5    Sverrir Ingi Ingason    KSC Lokeren
6    Ragnar Sigurðsson    FK Krasnodar
7    Jóhann Berg Guðmundsson    Charlton Athletic FC
8    Birkir Bjarnason    FC Basel
9    Kolbeinn Sigþórsson    FC Nantes
10    Gylfi Þór Sigurðsson    Swansea City FC
11    Alfreð Finnbogason    FC Augsburg
12    Ögmundur Kristinsson    Hammarby
13    Ingvar Jónsson    Sandefjord
14    Kári Árnason    Malmö FF
15    Jón Daði Böðvarsson    FC Kaiserslautern
16    Rúnar Már Sigurjónsson    GIF Sundsvall
17    Aron Einar Gunnarsson    Cardiff City FC
18    Theódór Elmar Bjarnason    AGF
19    Hörður Björgvin Magnússon    AS Cesena
20    Emil Hallfreðsson    Udinese Calcio
21    Arnór Ingvi Traustason        IFK Norrköping
22    Eiður Smári Guðjohnsen    Molde
23    Ari Freyr Skúlason    OB

Lars Lagerback (der wohl meistgeliebte Schwede in Island) und Zahnarzt Heimur Hallgrímsson sind gleichberechtigte Trainer (nach der EM wird Lars aufhören und Heimur das Team alleine übernehmen), sowie Guðmundur Hreiðarsson.

Ásgeir Sigurvinsson über die Chancen des isländischen Teams bei der EM 2016. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz, 2016-06-10_L1060225_00014
Ásgeir Sigurvinsson über die Chancen des isländischen Teams bei der EM 2016. ©Sabine Burger, Alexander Schwarz

Das kleine, unbeugsame isländische Dorf – ein paar Zahlen
Warum es den Rest Fußballeuropas schon überrascht haben dürfte:
Island ist das Land mit den wenigsten Einwohnern, dass sich jemals für eine EM qualifiziert hat: Das isländische Statistikbüro hat für den 1. Januar 2016 332.529 Einwohner gezählt. Das entspricht ungefähr der Größe Bielefelds, zählt etwas weniger Einwohner als Zürich und soviel wie Linz und Innsbruck zusammen.

Es gibt keine voll-professionellen Fußballclubs in Island und nur rund 100 isländische Fußballprofis (die im Ausland spielen) – 23 davon sind bei der EM2016 dabei!

Die isländische Bundesliga heißt Pepsi-Deildin und besteht aus 12 Mannschaften. Der Meister qualifiziert sich nur für die Champions-League Qualifikation, der zweit- und drittplatzierte nur für die Qualifikation der Europa-League. (Meist ist nach diesen Hin- und Rückspiel aber auch Schluss.) Die Saison ist gerade in vollem Gang. Sie ist aufgrund des Klimas recht kurz und beschränkt sich auf Anfang Mai  Mai bis Ende September / Anfang Oktober und wird ohne größere Unterbrechungen gespielt. Sogar während des Endspiels der EM ist ein ganz normaler Spieltag eingeplant.

Die Mannschaft ist der Star
Auch deshalb mag man wohl diese Mannschaft so sehr weltweit: Die Mannschaft ist der Star. Stars wie Ronaldo liefen 90 Minuten mit einem falschen Lachen auf dem Gesicht über den Platz, weil ihr Ego einfach keine Chance hatte. gegen das isländische Kollektiv, ihren Kampfeswillen, ihr Einer für Alle.

Diese Mannschaft spielt nicht als Fußballer, sondern als eine eingeschworene Gemeinschaft, die mehr oder weniger schon seit ihrer Jugend in der Nationalmannschaft zusammenspielt, die ein höheres Ziel hat. Sie spielt noch für die heren Ziele wie Ruhm und Ehre für ihr Land – und nicht für Geld und den nächsten Transfer. Auf der Krageninnenseite steht hinten innen “Fyrir Ísland” – Für Island.

Diese Mannschaft macht ihr Land so stolz, weil es, weit abgelegen im Nordatlantik, gerademal so unter dem Polarzirkel, auf einmal vom übrigen Europa, wenn nicht gar der restlichen (Fußball-)Welt plötzlich wahrgenommen wird. Auf einmal fühlen sich die Isländer nicht mehr so isoliert, auf einmal sind sie Teil einer größeren Gemeinschaft, gehören dazu – und zwar nicht nur (und nicht mehr) als irgendein belächeltes Anhängsel, sondern als respektiertes Mitglied. Dafür werden die Isländer der Fußballnationalmannschaft auf ewig dankbar sein. Wie im übrigen auch der Handball-Nationalmannschaft, als diese die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen gewann – und wie vielleicht auch bald der Fußballnationalmannschaft der Frauen, die sich bereits jetzt mit Übermacht für die nächste EURO qualifiziert haben.

Die Fans kennen die Mannschaft und die Mannschaft die Fans
Viel wurde in der Fußballhistorie schon geschrieben über den 12. Mann auf der Tribüne. Nie entsprach dies mehr der Wahrheit als heute.
Der Fanclub der Nationalmannschaft heißt so – Tólfan – und bei Heimspielen kommt Trainer Heimur schon mal in die Kneipe, in der sich die Fanggemeinschaft auf ein Bier versammelt, um ihnen die Taktik für das Spiel mitzuteilen. Das kennzeichnet diese Nationalmannschaft aus: Bodennähe, der direkte Kontakt mit den Fans oder vielmehr, die Einheit, die Fans und Mannschaft bilden. Und es spiegelt auch die isländische Gesellschaft wider: Man ist Gleicher unter Gleichen und respektiert den anderen so wie er ist für das was er ist.
Und dazu kommt noch, dass die Fans auf der Tribüne nicht nur irgendwelchen anonymen Fans sind. Die Spieler wissen, wer auf der Tribüne sitzt, sie kennen fast alle persönlich. Der Nachteil einer kleinen Bevölkerungszahl wird hier zum Vorteil: Man kennt sich, ist Familie, ist Freund, ist Bekannter. Der Bürgermeister von Reykjavík steht mit seinen Kindern genauso zwischen den Fans wie der gewählte Präsident mit seiner Frau. Künstler, Musiker, Schriftsteller, sie alle sind da – und nicht erst seit dieser EM.
Verteidiger Kári Árnason meinte nach dem 2:1-Sieg gegen Österreich: „Es ist, als hätte man seine Familie beim Spiel dabei. Ich kenne wahrscheinlich mindestens 50 Prozent der Menschen hier.“

Diese Verbundenheit wird schon beim Aufwärmen deutlich, wenn alle Isländer im Stadion das Lied anstimmen. Der Klassiker Ég er kominn heim (Ich komme nach Hause) stammt von Óðinn Valdimarsson aus dem Jahr 1960. Das Lied beschreibt einen Isländer, der nachdem er im Ausland war, wieder nach Island zurückkehrt und inbrünstig beschreibt, dass er jetzt, da er wieder da sei, er für sich und seine Geliebte zuammen einen Bauernhof bauen werde und beschreibt in romantischen Landschaftsbeschreibungen über das Licht, die Gletscher und die Vulkane, und er so durch und durch fühlt, dass er wieder zuhause ist.
Nebenbei bemerkt: Hier zeigt sich, dass musische Bildung durchaus seine Früchte abwirft. Keine andere Fankurve auf dieser Welt singt wohl besser und schöner als die Isländer – da dürften sie wohl schon jetzt Weltmeister sein.

HÚ!

Und dann der neue Wikingerfußballschlachtruf: Hú! Wenn dieser Ruf durch das Stadion schallt, kann man sich wenigstens ein bisschen vorstellen, wie sich die Bewohner mittelalterlicher Siedlung gefühlt haben müssen, wenn raubschatzende Wikinger in ihre Dörfer einfielen.

Ursprünglich kommt dieser Schlachtruf aus Schotland. Die Fans von Motherwell haben ihn 2014 erfunden. Danach haben es die Fans des isländischen Erstligateams Stjranan übernommen und dann schließlich die Tólfan.

Auch nach dem Spiel stärkt er das Band zwischen Spielern und Fans. Man wartet darauf, bis der Kapitän den nächsten Ruf, das nächste Klatschen einsetzt. Keiner wird ungeduldig, alle genießen diese verbindenden Pausen voller Energie, um mit dem nächsten Ruf, den Bund wieder und wieder zu bekräftigen.

Weitere isländische Fangesänge erklärt und singt hier der Botschafter der Republik Island in der Bundesrepublik Deutschland Gunnar Snorri Gunnarsson auf Spiegel Online.

Das isländische Team mag technisch nicht das brillantes dieser EM sein – es spielt aber mit dem meisten Herzblut und Kampfeskraft. Sie wissen selbst um ihre Grenzen und konzentrieren sich auf das, was sie tatsächlich können – und das mit Erfolg.

Und dass Journalisten nicht immer unbedingt eine professionelle Distanz zu ihrem Thema und den Personen haben müssen, zeigt dieser seit dieser EM weltberühmte Fernsehkommentator Gummi Ben, mit seiner ungezügelten Leidenschaft (mit deutschen Untertiteln):

Viele allen machten die letzten Woche die Runde, und ganz so falsch waren sie nicht.

Icelandair (Sponsor der Nationalmannschaft) und Wow-Air (isländische Billigfluglinie) setzen Extraflüge ein, was das Zeug hält, um alle Fans ins Stadion und wieder zurück nach Hause zu bringen.

Nur ein kleiner Vergleich mag genügen, was gerade auf der Insel im Nordatlantik so abgeht:
Man stelle sich vor, 8% der deutschen Bevölkerung (81.900.000) wäre bei der EM im Stadion. Das wären dann 6.552.000 Leute – und Lufthansa und Eurowings müssten sie alle hin- und herfliegen!

Der Rest der Bevölkerung, so schent es, waren wohl fast alle in Reykjavík bein zentralen Public Viewing auf dem Arnarholl vor der Lækjargata in der Innenstadt unter der Mitternachtssonne. Und dort wird es mit absoluter Sicherheit auch heute wieder brechend voll werden.

Auch schön ist das Reklamevideo von Icelandair zur EM2016, dass den Werdegang der isländischen Nationalmannschaft bis zur EM-Qualifikation nachzeichnet. Ab 0:26 zeigt es (gespielt) einen jungen Ásgeir Sigurvinsson, wie er bei beim Vulkanausbruch auf den Westmännerinseln noch seine Fußballschuhe rettet – und wie (nicht gespielt) er bei einem Interview mit der ARD direkt nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart gefragt wird, ob er nicht Deutscher werden möchte („Wir brauchen Sie in der Nationalmannschaft!“).

Wer noch zweifelt, ob er mal in Island Urlaub machen möchte. Alfreð Finnbógason vom FC Augsburg fliegt mit Norðurflug über die Insel und zeigt ihre Schönheit:

https://youtu.be/oivG2sZh4R8

Dann gibt’s für heute also nur noch eines: Rein ins Island-Trikot und ab auf den Arnarhóll:

Áfram Ísland!